Anxiety‑Toolkit: Neurobiologisch fundierte Werkzeuge zur Angstbewältigung
- Ruslan Spartakov

- 9. Nov.
- 21 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Nov.
Angst ist eine natürliche Reaktion des Körpers auf Bedrohung – verankert in unserem Nervensystem und Gehirn. Zentral dabei ist die Amygdala, das „Angstzentrum“ im limbischen System, die bei Gefahr Alarm schlägt und die Stressachse (HPA-Achse) aktiviert. In Sekunden schüttet der Körper Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus, um uns kampf- oder fluchtbereit zu machen. Diese Reaktion war evolutionär hilfreich, doch im modernen Alltag führt sie oft zu überschießender Angst bei eigentlich ungefährlichen Auslösern. Während die Amygdala feuert, gerät der präfrontale Kortex (PFC) – zuständig für Vernunft und Bewertung – ins Hintertreffen. Das erklärt, warum wir in Angstmomenten „den Kopf verlieren“: Der PFC kann die Alarmreaktion kaum mehr bremsen. Körperlich spüren wir dann typische somatische Symptome: Herzklopfen, Schweißausbrüche, flache Atmung, Zittern oder Schwindel. Diese entstehen, weil das autonome Nervensystem in den Sympathikus-Modus („Fight or Flight“) schaltet: Herzschlag und Atmung beschleunigen sich, Muskeln spannen an.
Die gute Nachricht: Wir können unser Nervensystem gezielt beruhigen und die “Alarmanlage“ neu justieren. Moderne Neurowissenschaften zeigen, dass wir durch bestimmte Techniken – von Atemübungen bis zur Mentalen Einstellung – direkt auf Körper und Gehirn einwirken können. In diesem Anxiety-Toolkit stelle ich neurobiologisch fundierte Werkzeuge vor, die Angstreaktionen abpuffern. Jede Methode wird wissenschaftlich beleuchtet und praxisnah erklärt. Ziel ist es, dein Ventil zu finden, um das übererregte System wieder in einen Zustand von Sicherheit und Ruhe zu versetzen.
1. Atem & Nervensystem: Die Kraft des Atems nutzen
Unser Atem ist eine direkte Leitung zum Nervensystem. Bei Angst atmen wir oft schnell und flach – das verstärkt Panik, weil weniger CO₂ im Blut bleibt. Bewusste Atemtechniken können hier entgegenwirken und den Parasympathikus (Ruhenerv) aktivieren. Besonders effektiv ist der Physiological Sigh, auf Deutsch der „physiologische Seufzer“. Dabei atmet man zweimal hintereinander tief ein und anschließend lange aus. Diese Technik wurde an der Stanford University untersucht: Bereits 5 Minuten tägliches „zyklisches Seufzen“ – also verlängertes Ausatmen mit Doppelinhalation – verbesserten die Stimmung signifikant und reduzierten Ängste stärker als Meditation. Das verlängerte Ausatmen verstärkt die vagusvermittelte Beruhigung, was man auch an gesunkener Atemfrequenz und Herzrate. Warum funktioniert das? Beim langsamen Ausatmen wird der Vagusnerv aktiviert, der Herzschlag und Stressreaktion drosselt. Die zweite, kurze Inhalation bei einem physiological sigh füllt die Lungen noch etwas mehr und hilft, CO₂ effizienter abzuatmen. So wird ein Tiefeinatmen-mit-langem-Ausatmen-Rhythmus geschaffen, der dem Körper ein Signal von „alles okay, du kannst entspannen“ sendet.
Ein weiterer Aspekt ist die CO₂-Toleranz. Menschen mit Panikattacken reagieren oft empfindlich auf CO₂-Anstieg (z.B. in engen Räumen oder beim Luftanhalten) – das Gehirn interpretiert es als Erstickungsgefahr und löst Alarm aus. Studien zeigen, dass langsame Atmung (~6 Atemzüge/Min) die Chemosensoren beruhigt: Die Toleranz für CO₂ steigt, sodass nicht mehr jede kleine Erhöhung sofort Panik triggert. Konkret fand man, dass langsames Atmen die Reflexreaktion auf Hyperkapnie (zu viel CO₂) deutlich reduziert. Anders gesagt: Wer regelmäßig das Verlängerte Ausatmen übt oder mit Atempausen seine CO₂-Gewöhnung trainiert, desensibilisiert das Alarmsystem. Das hilft, Hyperventilation und Schwindel in Angstmomenten zu vermeiden.
Interessant ist auch Nasenatmung vs. Mundatmung: Neurowissenschaftliche Befunde zeigen, dass das Atmen durch die Nase spezielle neuronale Schwingungen im Gehirn auslöst. Nasale Atmung synchronisiert Aktivität in emotionsrelevanten Zentren (Amygdala, Hippocampus) – während Mundatmung das nicht tut. Nasenatmung scheint somit direkt beruhigend auf das emotionale Netzwerk zu wirken. Praktisch bedeutet das: Versuche, bei Angst bewusst durch die Nase einzuatmen und den Atem langsam durch den Mund oder die Nase wieder abfließen zu lassen. Dadurch signalisierst du deinem Gehirn Sicherheit.
Take-away:
Physiologisches Seufzen üben: Zwei tiefe Nasen-Einatemzüge, dann langsam ausatmen. Mehrmals wiederholen – das senkt nachweislich akute Anspannung.
Ausatmung verlängern: Zähle z.B. 4 Sekunden ein, 6–8 Sekunden aus. Längeres Ausatmen stimuliert den Vagusnerv und beruhigt Puls und Geist.
CO₂-Toleranz steigern: Täglich 5 Minuten im Atemrhythmus 4-4-6-2 (Einhalten-Anhalten-Ausatmen-Pause) atmen. So lernt dein Körper, CO₂-Anstieg auszuhalten, was Panikattacken vorbeugt.
Nasentatmung nutzen: Wenn möglich durch die Nase atmen. Das fördert laut Forschung eine Ruheaktivität im Gehirn (Amygdala wird weniger getriggert).
Notfalltipp: Tiefe Bauchatmung (Hand auf den Bauch) und bewusst langsam atmen, um den Kreislauf aus flacher Angst-Atmung zu durchbrechen.
2. Körper & Bewegung: In den Körper kommen, Anspannung lösen
Bewegung ist eines der besten Mittel gegen Angst – unsere Muskeln und unser Gehirn sind schließlich für Bewegung unter Stress „programmiert“. Moderate körperliche Aktivität senkt erwiesenermaßen die Angstempfindlichkeit: Zahlreiche Studien zeigen, dass regelmäßiger Sport sowohl bei gesunden als auch bei ängstlichen Menschen die Ängste mindert. Bewegung baut Stresshormone ab und setzt Glücksbotenstoffe frei. Zudem fördert Ausdauertraining neuronale Anpassungen – z.B. wird BDNF (ein Nervenzell-Wachstumsfaktor) vermehrt ausgeschüttet, was angstlösende Effekte im Gehirn haben kann. Aerober Ausdauersport (Joggen, Radfahren, Schwimmen) hat sich in Übersichtsarbeiten als besonders hilfreich gegen Angst herauskristallisiert. Wichtig: Es geht nicht um Höchstleistungen – 30 Minuten moderates Bewegen, etwa zügiges Gehen, reichen, um den inneren Unruhezustand zu dämpfen.
Neben klassischem Sport wirken auch Körperpraktiken wie Yoga angstlösend. Yoga kombiniert sanfte Bewegung, Dehnung und Atmung – also genau die Elemente, die das Nervensystem entspannen. Meta-Analysen finden zwar nur kleine bis moderate Effekte von Yoga auf Angst aber doch signifikante Verbesserungen gegenüber Nichtstun. Interessanterweise zeigte Yoga in einigen Studien ähnlich gute Ergebnisse wie andere aktive Entspannungsverfahren Warum Yoga hilft, lässt sich neurobiologisch erklären: Durch langsame Bewegungen und Dehnen im Einklang mit tiefem Atem schaltet der Körper in den Parasympathikus-Modus. Zudem erhöht Yoga nachweislich den GABA-Spiegel im Gehirn – ein beruhigender Neurotransmitter – und reduziert so neuronale Übererregung (das wurde z.B. via fMRT und MRS in einzelnen Untersuchungen gezeigt). Fazit: Wenn Joggen nicht dein Ding ist, könnten Yoga oder Tai Chi ideal sein, um Bewegung mit Achtsamkeit zu verbinden und Ängste zu lindern.
Ein spannender Ansatz zur Stressregulation ist das Trembling bzw. neurogene Zittern. Vielleicht hast du beobachtet, wie Tiere nach einer Flucht oder einem Schock am ganzen Körper zittern, um die Spannung loszuwerden. Der Mensch unterdrückt dieses natürliche Zittern meist – doch man kann es bewusst hervorrufen, etwa durch bestimmte Übungen wie TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises). Dabei bringt man Muskeln (besonders in Hüfte und Beinen) durch Ermüdungsübungen zum leicht unkontrollierten Zittern. Die Idee: Dieses Zittern entlädt überschüssige Stressenergie und signalisiert dem Hirn, dass die Gefahr vorüber ist. Ein RCT-Protokoll aus 2024 beschreibt TRE als „einfache, innovative Methode, die angeborene Zitterreflexe aktiviert, um im Körper gespeicherte Spannung durch Stress/Trauma zu lösen und das Nervensystem schnell in einen ausgewogenen Zustand zu bringen“. Anwender berichten, dass sie sich nach solchen Zitterübungen tiefenentspannt fühlen. Die Evidenzbasis ist noch klein, aber erste Untersuchungen deuten an, dass neurogenes Zittern Ängste reduzieren und die Resilienz erhöhen kann, indem es den Körper physisch von der Alarmbereitschaft herunterreguliert. Wichtig ist, dies nur unter Anleitung auszuprobieren, um sich sicher dabei zu fühlen.
Zuletzt lohnt der Blick auf Interozeption und die Rolle der Insula. Interozeption bezeichnet die Wahrnehmung innerer Körperzustände (Herzschlag, Atem, Magengefühl etc.). Bei Angststörungen ist diese oft gestört: Man nimmt harmlose Körperschwankungen als bedrohlich wahr oder ist übersensibel. Die Insula, ein Hirnareal tief im Kortex, ist zentral für Interozeption und Gefühlsverarbeitung zuständig. Hoch ängstliche Personen zeigen oft eine Überaktivität oder veränderte Konnektivität in der Insula, was mit ständigem Körperscannen und Besorgnis einhergeht. Doch man kann die innere Wahrnehmung trainieren: Durch Body-Scan-Meditationen, achtsames Spüren beim Sport oder Yoga lernt das Gehirn, Körperempfindungen nüchterner zu registrieren statt panisch zu bewerten. Studien haben gezeigt, dass gezieltes Interozeptions-Training (z.B. Herzschlag fühlen üben) die Konnektivität der vorderen Insula zum präfrontalen Kortex verstärkt und die Angstsymptome senkt. Eine Arbeit aus 2024 fand nach mehrwöchigem Interozeptionstraining verminderte Angstsymptome und weniger körperliche Stresssymptome, einhergehend mit stärkerer Anbindung der vorderen Insula an Hirnstamm und dorsolateralen PFC – sprich: Der Körper sendet zwar weiter Signale, aber das Gehirn kann sie besser einordnen und regulieren. Merke: Alles, was dich in deinen Körper bringt (Bewegung, Tanz, Körperwahrnehmungsübungen), kann helfen, die Insula zu kalibrieren und die Angst vor körperlichen Empfindungen abzubauen.
Take-away:
Bewegung einplanen: 3–4× pro Woche moderat Ausdauersport treiben (z.B. 30 Min. Joggen oder Radfahren). Das senkt nachweislich die generelle Ängstlichkeit und verbessert den Schlaf.
Yoga oder Pilates nutzen: 1–2× pro Woche Yoga, Qi Gong o.Ä. fördert Entspannung. Die Verbindung aus Dehnung, Atem und Achtsamkeit wirkt regulierend auf das Nervensystem und kann Ängste lindern.
Zittern zulassen: Bei starkem Stress mal ausprobieren, den Körper bewusst zittern zu lassen (etwa indem du in der Plank-Position bis zum Muskelzittern gehst und dann entspannst). Dieses Trembling entspannt tief liegende Muskelspannungen und beruhigt das autonome Nervensystem.
Body-Scan: Täglich 5 Minuten im Liegen von Fuß bis Kopf den Körper durchwandern (Wahrnehmung jeder Empfindung, ohne Bewertung). Das trainiert die Insula, Körpergefühle gelassener zu registrieren, und verringert die Schreckhaftigkeit bei körperlichen Symptomen.
Interozeptives Training: Übe, deinen Herzschlag oder Atemrhythmus im Ruhezustand zu spüren. Studien zeigen, dass bessere Körperwahrnehmung mit weniger Angst und mehr Insula-PFC-Balance einhergeht.
3. Kognition & Aufmerksamkeit: Beobachten statt Bewerten
Angst findet nicht nur im Körper, sondern auch im Kopf statt – als Karussell von Sorgen und Grübeleien. Oft steigern wir uns durch unsere Gedankenbewertungen weiter in die Angst hinein („Warum habe ich schon wieder Herzklopfen, stimmt was nicht?!“). Ein entscheidender Hebel ist daher der Umgang mit den eigenen Gedanken und die Lenkung der Aufmerksamkeit. Hier setzt Achtsamkeit an: anstatt ängstliche Gedankenketten endlos zu analysieren oder zu verdrängen, übt man, sie nur zu beobachten, ohne Urteil. Dieses „Beobachten vs. Bewerten“ ist ein Kernprinzip der achtsamkeitsbasierten Therapie. Es schafft einen inneren Abstand zu den Angstgedanken. Neurowissenschaftlich zeigt sich, dass regelmäßige Achtsamkeitsmeditation die Konnektivität des Default Mode Network (DMN) verändert. Das DMN ist das Netzwerk, das aktiv ist, wenn wir gedanklich abschweifen – leider oft in Sorgen über Vergangenheit oder Zukunft. Bei Angst ist das DMN häufig überaktiv und hyper-vernetzt, was ständiges Grübeln fördert. Mindfulness-Meditation hilft erwiesenermaßen, das DMN herunterzufahren und die Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zu bringen. In klinischen Studien mit Ängstlichen zeigten sich durch Achtsamkeitstraining reduzierte DMN-Aktivität sowie eine bessere funktionelle Kopplung frontaler Kontrollregionen – sprich, das Gehirn springt weniger in ungezügelte Sorgenmodus, weil der präfrontale Kortex die Zügel zurück in die Gegenwart lenkt.
Ein weiterer Aspekt ist die Regulation durch den Präfrontalen Kortex (PFC). Unter Stress „entkoppelt“ sich der PFC teilweise von der Amygdala – die Emotionsregion feuert ungehemmt. Durch kognitive Techniken können wir jedoch den PFC wieder online bringen. Zum Beispiel hilft kognitive Umstrukturierung (eine klassische CBT-Technik): Man hinterfragt die übertriebenen Angstdrachen der Amygdala mit rationalen Gegenargumenten. Etwa: „Wie wahrscheinlich ist es wirklich, dass mein Herzrasen gefährlich ist? Gab es das nicht schon oft ohne Folgen?“ Diese Art von Reality-Check aktiviert die dorsolateralen und ventromedialen PFC-Areale, die hemmend auf die Amygdala einwirken. Bildgebende Studien zeigen, dass erfolgreiches kognitives Umdeuten (Reappraisal) mit verringerter Amygdala-Aktivität und verstärkter PFC-Aktivität einhergeht. Der PFC fungiert also als Angstmanager, der der Amygdala signalisiert: „Beruhig dich, die Lage ist unter Kontrolle.“ Menschen mit Angststörungen haben oft chronisch eine etwas geringere präfrontale Kontrolle. Doch durch Übung – z.B. in Therapien, aber auch allein durch strukturiertes Nachdenken oder Journaling – lässt sich diese Verbindung stärken.
Ein verwandtes Konzept ist das Lenken der Aufmerksamkeit (Attentional Control). Bei Angst neigen wir zum „Tunnelblick“ auf Gefahren: Wir scannen die Umgebung oder unseren Körper unbewusst nach Bedrohlichem. Dieses attention bias kann man mit Übungen umtrainieren. Eine einfache Übung: Im Angstmoment bewusst 5 Dinge in der Umgebung benennen, die man sieht/hört/spürt. So zwingt man das Gehirn aus der inneren Angstblase in die reale Außenwelt. Das Default Mode Network, das bei nach innen gerichteter Grübelei aktiv ist, wird dadurch heruntergefahren, während das saliente Netzwerk (zuständig für Außenreize) übernimmt. Dieser Netzwerkwechsel kann akute Angst unterbrechen. Tatsächlich nutzt man dies in Therapien z.B. durch Aufmerksamkeits-Trainingstools, wo Patienten lernen, neutrale/positive Reize statt bedrohliche Reize schneller wahrzunehmen. Das Resultat: Weniger dauerhafter Selbstfokus und Grübelzwang. Und je häufiger man das übt, desto neuroplastischer passt sich das Gehirn an – das DMN verliert seine Dominanz, während präfrontale und aufmerksamkeitslenkende Regionen an Einfluss gewinnen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Umgang mit Gedanken und Aufmerksamkeit entscheidet maßgeblich, ob Angst sich verselbstständigt. Indem du lernst, Gedanken nur ziehen zu lassen statt inhaltlich voll einzusteigen, entziehst du der Angst den Treibstoff. Und indem du die Aufmerksamkeit steuerst (auf den Atem, die Umgebung, eine Aufgabe), nimmst du deinem Gehirn die Kapazität, im Kreis zu ängstigen. Moderne Ansätze wie Achtsamkeitstraining, Metakognitive Therapie oder Akzeptanzübungen setzen genau hier an – mit teils beeindruckenden Ergebnissen in Studien zur Angstreduktion.
Take-away:
Achtsamkeits-Minipausen: Täglich 10 Minuten hinsetzen und z.B. auf den Atem fokussieren. Wenn Gedanken (auch Angstsorgen) kommen, diese bemerken und vorbeiziehen lassen wie Wolken. Das reduziert erwiesenermaßen Grübeln und DMN-Überaktivität.
Gedanken aufschreiben: Führe ein „Sorgenjournal“. Schreib die Angstgedanken auf und dann antworte schriftlich mit rationaler Sicht. Dieses kognitive Reframing stärkt den präfrontalen Realitätssinn und schwächt die Macht verzerrter Gedanken.
Realität prüfen: Frage dich bei Angst: „Was würde ich einem guten Freund in dieser Situation raten?“ – Diese Perspektive reaktiviert den denkenden PFC, der die Situation nüchterner beurteilt.
Aufmerksamkeitsübungen: Nutze die 5-4-3-2-1-Methode (5 Dinge sehen, 4 hören, 3 fühlen, 2 riechen, 1 schmecken), um dich aus Panikgedanken ins Hier und Jetzt zu holen. Dein Gehirn kann nicht gleichzeitig stark fühlen und detailliert beobachten – du beruhigst so die innere Alarmkaskade.
Nicht bewerten: Übe im Alltag, neutrale Beobachterhaltung einzunehmen. Zum Beispiel: Statt „Mir ist schwindelig, das ist furchtbar!“ sagen: „Ich merke Schwindel – interessant.“ Dieser Wechsel von Bewertung zu Beobachtung nimmt viel Druck aus der körperlichen Angstreaktion.
4. Soziale & sensorische Sicherheit: Verbundenheit und Sinneseindrücke
Angst ist eng verknüpft mit unserem Sicherheitssystem. Wenn wir uns sozial geborgen fühlen, schaltet der Körper aus der Verteidigung in den Entspannungsmodus. Dieses Prinzip erklärt die Polyvagal-Theorie des Neurowissenschaftlers Stephen Porges: Unser Vagusnerv hat einen evolutionär neuen Anteil – den ventralen Vagus – der bei sozialen Säugetieren (wie uns) dafür sorgt, dass Nähe und Vertrauen das Nervensystem beruhigen. Laut Polyvagal-Theorie ist gefühlte Sicherheit kein Luxus, sondern ein biologisches Grundbedürfnis. Fühlen wir uns sicher und nicht bedroht, dann dominiert der ventrale Vagus: Herzschlag ruhig, Verdauung aktiv, Immunsystem im Balance-Modus. Wir können dann offen und ohne Angst mit anderen interagieren. Umgekehrt versetzt uns soziale Isolation oder Misstrauen in latente Alarmbereitschaft.
Daher sind soziale Kontakte und Co-Regulation mächtige Angstpuffer. Co-Regulation bedeutet: Zwei Nervensysteme beruhigen sich gegenseitig. Denken wir an das Bild einer Mutter, die ein aufgeschrecktes Kind hält – ihr eigener ruhiger Atem und tiefer Tonfall übertragen sich auf das Kind und dessen Herzschlag passt sich an. Dieses Prinzip funktioniert auch unter Erwachsenen. Wenn wir mit einer vertrauten Person sprechen, die Ruhe ausstrahlt, oder einfach jemanden an unserer Seite wissen, sendet das unserem Körper Sicherheits-Cues. Studien zeigen zum Beispiel, dass schon das Halten der Hand eines geliebten Menschen die Amygdala-Reaktivität senken kann (soziale Unterstützung dämpft die Angstreaktion im fMRT messbar). Auch gemeinsames Lachen oder singen mit anderen stimuliert den ventralen Vagus, was körperlich messbar zu Entspannung führt. Porges nennt das das soziale Kommunikationssystem: Gesichtsausdruck, Stimme, Ohrmuskeln – alles wird vom ventralen Vagus mitgesteuert und dient dem Austausch von „alles gut“-Signalen.
Man kann aber auch alleine sensorische Sicherheit kultivieren. Hier kommen unsere Sinne ins Spiel. Angenehme sensorische Reize signalisieren dem primitiven Gehirn: keine Gefahr in Verzug. Beispiel: Tiefe Druckreize (z.B. eine Gewichtsdecke oder feste Umarmung) aktivieren Mechanorezeptoren in der Haut, die wiederum vagale Reflexe auslösen – Herzfrequenz und Stresshormone gehen runter. Viele Angstpatienten berichten, dass das Einkuscheln in eine schwere Decke beruhigend wirkt – neurologisch macht das Sinn, da es den Körper an sicheren Körperkontakt erinnert und den Sympathikus dämpft. Ebenso können Rhythmen und Klänge das System beruhigen: Sanfte Musik mit etwa 60 BPM kann den Herzschlag synchron verlangsamen. Bestimmte Frequenzen (v.a. tiefe, brummende Töne oder das Summen beim Om-Chanting) stimulieren den Vagusnerv über den Kehlkopf und das Mittelohr. Hören ist generell eng mit dem Vagus verbunden – deshalb können auch Naturgeräusche (Wellenrauschen, Regen) oder das Schnurren einer Katze eine beruhigende Wirkung entfalten.
Nicht zuletzt spielt der Vagusnerv als Hauptnerv des Parasympathikus die Schlüsselrolle. Wir haben schon gesehen, wie Atmung den Vagus aktiviert. Es gibt weitere einfache Tricks: Kalte Reize am Gesicht (kaltes Wasser oder eine Kühlpackung auf Stirn und Wangen) nutzen den Tauchreflex: Das Gesichtskaltwasser aktiviert den Vagus schlagartig und bremst den Herzschlag – ein altbewährter Trick bei Panikattacken. Auch Summen, Singen, Brummen stimuliert den Vagus über den Kehlkopfnerv – deshalb fühlt man sich nach einem Lied oft gelöster. Interessanterweise wird sogar langsames Kauen und ausgiebiges Gähnen mit Vagustonus-Anstieg in Verbindung gebracht. All dies sind Signale an den Körper: Wir sind in Sicherheit.
Die Polyvagal-Theorie betont, dass Sicherheit vermitteln aktiver geschehen kann. Das bedeutet konkret: Schaffe bewusst Umgebungen und Rituale, die deinem Nervensystem Sicherheit signalisieren. Das kann ein gemütliches abendliches Routine sein (gedimmtes Licht, Tee, leise Musik), wodurch dein Körper lernt: jetzt darf ich runterfahren. Oder ein vertrauter Geruch (Lavendelöl, der Duft eines geliebten Menschen am Pullover) – Geruch ist stark ans emotionale Gehirn gekoppelt und kann sofortige Beruhigung triggern. Viele dieser Strategien klingen simpel, haben aber biologisch Hand und Fuß.
Take-away:
Soziale Zeit einplanen: Verbringe regelmäßig Zeit mit Menschen, bei denen du dich wohlfühlst. Ein offenes Gespräch oder einfach gemeinsam Schweigen – soziale Verbundenheit aktiviert deinen Sicherheitsmodus.
Körperkontakt suchen: Eine Umarmung von 20 Sekunden (so lange, bis sich wirklich Entspannung einstellt) kann spürbar beruhigen. Körperliche Nähe schüttet Oxytocin aus und dämpft die Stressreaktion.
Gewichtsdecke/umschlungen schlafen: Schwere Decken oder dich selbst eng in eine Decke wickeln kann nächtliche Unruhe reduzieren. Tiefer Druck auf den Körper signalisiert Geborgenheit und verbessert laut Berichten Schlaf und Angstgefühl.
Vagus-Hacks: Bei akuter Panik spritze dir kaltes Wasser ins Gesicht oder halte einen Coolpack an. Das triggert den „Tauchreflex“ und senkt Puls und Blutdruck sofort. Auch langsam summen (z.B. beim Ausatmen ein tiefes „Hmmmmm“) beruhigt den Nervus vagus.
Sinne beruhigen: Erstelle dir eine persönliche Beruhigungs-Umgebung: warmes gedämpftes Licht am Abend, leise Lieblingsmusik, Lavendelduft im Raum. Solche sensorischen Cues lassen dein Nervensystem wissen: Hier darf ich loslassen.
5. Lifestyle & Supplements: Lebensstil-Schrauben für ein ruhiges Nervensystem
Angstbewältigung endet nicht bei Übungen – der Lebensstil hat erheblichen Einfluss auf unsere Anfälligkeit für Angst. Ein zentrales Fundament ist Schlaf. Schlafmangel und Ängstlichkeit verstärken sich gegenseitig in einer Teufelsspirale. Bereits eine einzige schlaflose Nacht kann die Angst am nächsten Tag messbar erhöhen, weil die Amygdala- und Stressachsen-Regulation aus dem Gleichgewicht gerät. Chronischer Schlafmangel führt zu erhöhter Amygdala-Aktivität und gesteigerter Reizbarkeit bei kleinsten Stressoren. Umgekehrt wirkt guter Schlaf wie ein natürlicher Angstdämpfer: In der Tiefschlafphase werden emotionale Erlebnisse vom Vortag „sortiert“ und die Stressreaktivität des Gehirns sinkt. Tipp: Etabliere eine Schlafhygiene-Routine (feste Zeiten, kein Bildschirmlicht spätabends, kühle dunkle Schlafumgebung). Sollte Schlaf ein Hauptproblem sein, lohnt eventuell ein Gespräch mit Fachleuten, denn unbehandelte Schlafstörungen können Angsttherapie sabotieren. Priorisiere Schlaf ähnlich wie eine Medizin – denn er ist eine.
Ernährung spielt über verschiedene Mechanismen hinein: Eine ausgewogene Kost unterstützt einen stabilen Blutzucker und eine gesunde Darmflora – beides relevant für die Stimmung. Extreme Diäten, viel Zucker oder das Auslassen von Mahlzeiten können Blutzuckerschwankungen provozieren, die Symptome wie Zittern oder Herzrasen geben (welche dann als Angst fehlinterpretiert werden). Achte auf regelmäßige, nährstoffreiche Mahlzeiten mit komplexen Kohlenhydraten, Proteinen und Omega-3-Fetten (z.B. aus Fisch, Nüssen). Omega-3-Fettsäuren wirken entzündungshemmend und es gibt Hinweise, dass sie Angst und Depression vorbeugen können. Fermentierte Lebensmittel oder ein Probiotikum könnten das Darm-Hirn-System unterstützen – Studien zeigen Zusammenhänge zwischen Darmflora und Angst (Stichwort Psychobiotika). Insgesamt gilt: Was gut fürs Herz-Kreislauf-System und Gehirn ist, hilft meist auch gegen chronische Angst.
Stimulanzien: Ein wichtiger Faktor ist Koffein. So geliebt Kaffee ist – bei Neigung zu Angst sollte man ihn mit Bedacht dosieren. Koffein wirkt anregend, indem es Adenosinrezeptoren im Gehirn blockiert und Stresshormone freisetzt. Eine Meta-Analyse von 2024 bestätigte, dass hohe Koffeinmengen (>400 mg, ca. 4+ Tassen Kaffee) deutlich mit erhöhten Angstsymptomen einhergehen. Selbst moderate Mengen erhöhten schon leicht das Angstniveau bei empfindlichen Personen. Empfindlichkeit variiert allerdings individuell – manche bekommen schon von einer Tasse Herzklopfen und Unruhe, andere vertragen 3 Tassen problemlos. Als Faustregel: Wenn du merkst, dass Koffein dich nervös macht, reduziere es. Vielleicht auf entkoffeinierten Kaffee umsteigen oder Grünen Tee (der enthält L-Theanin, eine beruhigende Aminosäure). Auch Nikotin und andere Stimulanzien wie Energy-Drinks können Ängste schüren, obwohl man subjektiv erstmal Entspannung (bei Nikotin) spürt – letztlich wird aber das sympathische Nervensystem aktiviert und Entzugssymptome verstärken Unruhe.
Nährstoffe und Supplements: Der Trend, Angst mit Vitamin- und Kräuterpräparaten zu lindern, boomt. Es gibt einige, für die es tatsächlich wissenschaftliche Anhaltspunkte gibt. Eines der bekanntesten Mineralstoffe hierbei ist Magnesium. Magnesium beteiligt sich an über 300 enzymatischen Reaktionen, viele davon im Nerven- und Muskelstoffwechsel. Ein leichter Magnesiummangel kann zu erhöhter neuromuskulärer Erregbarkeit führen (Muskelzucken, Herzstolpern, innere Unruhe). Studien – wenn auch oft klein – zeigen, dass Magnesium-Supplementierung bei Menschen mit niedrigem Magnesiumstatus Ängste reduzieren kann. Ein systematisches Review 2024 fand, dass von 7 klinischen Studien zu Magnesium bei Angst 5 eine signifikante Besserung der Angstsymptome zeigten. Besonders mildere Angstformen und begleitende Schlafprobleme sprachen an. Magnesium wirkt wahrscheinlich, indem es das Nervensystem “entspannt” – es moduliert NMDA-Rezeptoren und fördert GABA (den wichtigsten Beruhigungsbotenstoff). Neben Supplementen (üblich sind ~200–400 mg elementares Magnesium vor dem Schlafengehen) sollte man auch magnesiumreiche Kost nicht vergessen: dunkelgrünes Blattgemüse, Nüsse, Vollkorn, Kakao.
Unter den Pflanzenstoffen ragt Ashwagandha hervor, eine ayurvedische Heilpflanze (Withania somnifera). Ashwagandha ist ein Adaptogen, soll also den Körper resistenter gegen Stress machen. Tatsächlich gibt es inzwischen mehrere Placebo-kontrollierte Studien, die Ashwagandha-Extrakt (meist 300–600 mg/Tag) getestet haben. Eine systematische Übersichtsarbeit 2021 über 7 Studien fand, dass Ashwagandha gegenüber Placebo Stress- und Angstscores signifikant senkte und Cortisol (Stresshormon) reduzierte In einigen dieser Studien wurden Verbesserungen von Schlaf und Erschöpfung mitberichtet. Ashwagandha scheint die HPA-Achse zu modulieren – es wurden durchschnittlich Cortisolsenkungen von ~15–30% gemessen bei regelmäßiger Einnahme. Wichtig: Qualitätsprodukte wählen, da der Wirkstoffgehalt (Withanolide) standardisiert sein sollte. Ashwagandha gilt als relativ sicher; dennoch sollte man vor Einnahme z.B. mit Arzt oder Apotheker sprechen, vor allem wenn man Medikamente nimmt.
Weitere Supplements mit möglicher angstlösender Wirkung sind z.B. L-Theanin (eine Grüntee-Aminosäure, fördert Alphawellen im Gehirn), B-Vitamine (besonders B6, B12 – Mangel kann Nervosität fördern) oder Passionsblume, Baldrian, Lavendelöl (klinische Daten hierzu sind gemischt, aber viele Anwender schwören darauf). Immer zu beachten: Supplements sind keine Wundermittel, aber können unterstützen. Die Basis muss trotzdem ein gesunder Lebensstil mit Schlaf, Bewegung, Ernährung sein.
Ein interessantes Biofeedback-Maß zur Bewertung deines Lebensstil-Erfolgs ist HRV (Heart Rate Variability) – die Herzratenvariabilität. Das ist das feine Fluktuieren der Abstände zwischen Herzschlägen. Hohe HRV bedeutet, dass dein Herz schnell zwischen Anspannung und Entspannung wechseln kann – ein Zeichen für starken Vagusnerv und Stressresilienz. Niedrige HRV korreliert hingegen mit chronischem Stress, Angst und sogar höherem Depressionsrisiko. Viele Smartwatches und Apps können HRV messen. Verbesserbar ist sie durch all die genannten Maßnahmen: Ausdauertraining, Atemübungen, Schlaf, Meditation. Es gibt sogar spezifisches HRV-Biofeedback-Training, wo man durch Atemtechniken sein Herz-Kreislauf-System in Resonanz bringt (typisch ~6 Atemzüge/Min.) und die HRV steigert. Studien zeigen, dass solches Training Ängste reduzieren kann, da es den Parasympathikus stärkt. Du könntest z.B. am Morgen einmal messen (via App): Niedrige HRV kann ein Hinweis sein, dass du dir an dem Tag extra Pausen gönnen solltest. Sie ist quasi ein objektiver Stress-Tacho.
Take-away:
Schlaf heilig halten: Strebe ~7–9 Stunden Schlaf an. Schlafmangel kurbelt die Angst hoch – gönn deinem Gehirn jede Nacht die Chance, sich zu resetten. Notfalls sind Power-Naps besser als nichts.
Koffein reduzieren: Versuch mal, auf max. 1–2 koffeinhaltige Getränke pro Tag zu kommen oder koffeinfreie Alternativen (Kräutertee, Getreidekaffee). Hohe Koffeindosen können Angst deutlich verstärken. Beobachte, ob du ruhiger wirst, wenn du weniger Kaffee trinkst.
Stabile Ernährung: Iss regelmäßig vollwertige Mahlzeiten. Vermeide zu viel Zucker oder längeres Fasten, damit der Blutzucker stabil bleibt – das schützt vor körperlichen Angstgefühlen durch Unterzucker. Integriere Omega-3-Fette (z.B. Leinöl, Lachs) und vielleicht probiotische Lebensmittel (Joghurt, Sauerkraut) für die Darm-Hirn-Achse.
Magnesium checken: Wenn du zu Muskelanspannung und innerer Unruhe neigst, könnte Magnesium helfen. In Studien besserte Magnesium leichte Angst und Schlafprobleme. Lebensmittel wie Kürbiskerne, Mandeln und Spinat enthalten viel davon. Oder mit Absprache ein Magnesiumcitrat-Präparat abends ausprobieren.
Adaptogene nutzen: Erkundige dich bei Interesse nach Ashwagandha oder Baldrian/Lavendel-Präparaten. Ashwagandha hat in Untersuchungen Stress und Angst messbar reduziert. Es ist kein Ersatz für Therapie, kann aber ergänzend die Stressresistenz erhöhen.
HRV im Blick: Nutze deine Smartwatch oder eine App, um deine Herzratenvariabilität zu tracken. Steigt sie, ist das ein Zeichen, dass dein Lebensstil dein Nervensystem stärkt. Mit Atemübungen (z.B. 5 Sekunden ein, 5 aus) kannst du kurzfristig deine HRV erhöhen und dich selbst beruhigen.
6. Mindset & Akzeptanz: Die innere Haltung gegenüber Stress und Ungewissheit
Zuletzt geht es um die innere Einstellung – wie wir mental mit Angst und Stress umgehen. Unsere Mindsets haben einen erstaunlichen Einfluss darauf, wie Stresshormone wirken und wie belastend wir Situationen empfinden. Ein bekanntes Konzept ist das „Stress-is-enhancing“-Mindset, also die Überzeugung, dass Stress etwas sein kann, was einen stärkt und motiviert, anstatt einen nur zu schädigen. Forschung von Crum et al. hat gezeigt, dass Menschen, die Stress eher als Herausforderung denn als Bedrohung sehen, weniger negative Folgen erleben – psychisch wie physisch. In Experimenten konnte man durch kurze Interventionen (Videos, Übungen) das Stress-Mindset von „Stress ist schädlich“ hin zu „Stress kann nützlich sein“ verändern und fand dadurch reduzierte Angstsymptome und bessere Leistungsfähigkeit unter Druck. Warum? Wenn wir Stresssymptome (z.B. Herzklopfen vor einer Rede) als Anzeichen von Aufregung und Energie umdeuten statt als Gefahr, schüttet der Körper weniger Cortisol aus und die Gefäße bleiben weiter (also geringer kardiovaskulärer Schaden). Ein positiverer Stressblick führt auch zu proaktiverem Bewältigungsverhalten – man geht Herausforderungen eher an, statt sie zu vermeiden. Natürlich heißt das nicht, dass man dauerhaft extremen Stress suchen soll. Aber es bedeutet: Die Bewertung „Stress macht mich kaputt“ kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Versuch einmal, in einer akuten stressigen Situation innerlich zu sagen: „Okay, mein Körper mobilisiert sich – das gibt mir Power, diese Aufgabe zu meistern.“ – Dieses Reframing kann dein Erleben sofort ändern.
Ein weiterer wichtiger Mindset-Aspekt bei Angst ist der Umgang mit Ungewissheit. Intolerance of Uncertainty – also die schlechte Toleranz gegenüber Unsicherheit – ist ein Kernmerkmal vieler Angststörungen, besonders generalisierter Angst (Sorgen über alles Mögliche). Menschen mit hoher Unsicherheitstoleranz können besser mit dem umgehen, was sie nicht kontrollieren können, während Menschen mit Angst Ungewissheit als unerträglichen Zustand empfinden, den es um jeden Preis aufzulösen gilt (oft durch Grübeln oder Rückversicherung). Eine Übung in der Therapie ist es, Unsicherheit auszuhalten und sich bewusst nicht alle Eventualitäten abzusichern. Zum Beispiel: Wenn jemand ständig gesundheits-ängstlich ist, versucht er vielleicht durch ständiges Googeln von Symptomen Sicherheit zu erlangen – was ironischerweise die Angst erhöht. Hier wäre die Übung, das Googeln zu unterlassen und die aufkommende Ungewissheit „Vielleicht habe ich was“ einfach stehen zu lassen. Anfangs sehr schwierig, doch mit der Zeit lernt das Gehirn: Es ist nicht tödlich, etwas nicht sicher zu wissen. Studien zeigen, dass das gezielte Training der Unsicherheitstoleranz Angstsymptome verringert und Resilienz erhöht. Man kann sich selbst kleine Challenges setzen: mal einen Plan bewusst offen lassen, eine Entscheidung vertagen ohne stundenlanges Abwägen, oder auch etwas Neues ausprobieren (wo Ergebnis ungewiss ist). Jede Erfahrung, dass Ungewissheit überlebt wird, schwächt die Überzeugung „Ich muss immer alles im Griff haben“ ab.
Akzeptanz ist schließlich ein übergreifendes Prinzip in der modernen Angsttherapie. Acceptance and Commitment Therapy (ACT) propagiert, dass man unangenehme Gefühle nicht eliminieren, sondern annehmen soll, während man das tut, was einem wichtig ist. Akzeptanz heißt nicht „mögen“, sondern „sein lassen“: Das Angstgefühl darf da sein, ich kämpfe nicht dagegen, sondern nehme es wahr, aber handle trotzdem nach meinen Werten. Interessanterweise führt gerade diese Haltung oft dazu, dass die Angst an Intensität verliert – weil der innere Kampf aufhört. ACT hat in Studien bei Angststörungen moderate bis große Effekte gezeigt. Es erhöht die psychologische Flexibilität, also die Fähigkeit, auch mit Angst im Bauch sinnvolle Aktionen zu machen, anstatt sich von der Angst dirigieren zu lassen. Praktisch kann man Akzeptanz üben, indem man sich bei Angst sagt: „Hallo Angst, ich spüre dich – ist okay, bleib ruhig da, wenn du magst. Ich kümmere mich jetzt trotzdem um XY.“ Klingt vielleicht seltsam, aber dieser innere Dialog entwaffnet die Angst. Sie muss nicht lauter schreien, um gehört zu werden – man hat sie ja schon gehört.
Ein weiterer ACT-Ansatz: Werteorientierung. Wenn man klar hat, was einem wichtig ist im Leben (z.B. Familie, Kreativität, Freiheit), kann man in Angstmomenten fragen: „Welche kleine Handlung bringt mich Richtung meiner Werte, auch wenn Angst da ist?“ – Das kann motivieren, mutige Schritte zu gehen, trotz Zittern. Etwa die Angst vor Ablehnung spüren, aber trotzdem auf Menschen zugehen, weil einem z.B. Mitmenschlichkeit wichtig ist. Jedes Mal, wenn man das tut, gewinnt man ein Stück Freiheit von der Angst.
Zusammengefasst: Die mentale Haltung – sei es gegenüber Stress allgemein, gegenüber Ungewissheit oder gegenüber der Angst selbst – bestimmt stark, wie wir Angst erleben. Mit Übung kann man seine Einstellungen ändern: Stress als potenziellen Helfer sehen, Ungewissheit als Teil des Lebens akzeptieren und Angst als vorüberziehendes Gefühl betrachten, das einen nicht definieren muss. Diese Mindset-Shifts dauern zwar, aber sind tiefgreifende „Werkzeuge“, die nachhaltige Angstresilienz bringen.
Take-away:
Stress-Umbewertung: Erinnere dich im nächsten Stressmoment: Stress = Energie! Zum Beispiel vor einer Prüfung: „Mein Herz schlägt schneller, super – mehr Blut im Gehirn, ich bin wach und bereit.“ Dieses Mindset kann laut Forschung Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden unter Stress verbessern.
„Gute“ Angst vs. „schlechte“ Angst: Unterscheide zwischen fördernder Aufregung (die z.B. bei Herausforderungen hilft) und lähmender Angst. Versuche, Ersterer Raum zu geben und Letztere mittels der hier gelernten Tools zu beruhigen.
Unsicherheit aushalten: Nimm dir vor, kleinere Unsicherheiten stehenzulassen. Beantworte z.B. eine WhatsApp nicht sofort oder google Symptome bewusst nicht. Spüre die Ungewissheit im Körper und atme – du trainierst damit deinen „Ungewissheits-Muskel“. Je höher deine Toleranz, desto weniger wirft dich das Unvorhergesehene aus der Bahn.
Angst akzeptieren: Sage dir in Angstmomenten: „Es ist okay, dass Angst da ist. Ich darf mich trotzdem bewegen/sprechen/lächeln.“ Nimm die Angst mit wie einen nervigen, aber nicht gefährlichen Begleiter. Diese akzeptierende Haltung schwächt den Teufelskreis aus Angst vor der Angst.
An Werten orientieren: Schreib 3 Werte auf, die dir im Leben wichtig sind. Wenn Angst dich blockiert, überlege: Was würde ich tun, wenn ich mutig nach meinen Werten handle? – Dann mach genau das, auch wenn die Angst noch murmelt. So wächst du über die Angst hinaus, Schritt für Schritt.
Reflexionsfragen
Welche der vorgestellten Techniken spricht dich spontan am meisten an? – Das könnte ein Hinweis sein, womit du starten möchtest (z.B. Atemübung im Alltag integrieren oder wieder mit Sport beginnen).
Erinnerst du dich an eine Situation, in der du Angst erfolgreich beruhigen konntest? – Was hast du damals getan oder gedacht? Könntest du dieses Werkzeug bewusster einsetzen?
Wie sieht deine aktuelle Stressbewältigung aus? – Notiere ehrlich, zu welchen (ggf. weniger hilfreichen) Mitteln du greifst, wenn Angst hochkommt (z.B. Rückzug, Grübeln, Beruhigungstablette, etc.). Welche neuen Tools würdest du gerne stattdessen ausprobieren?
Wie redest du mit dir selbst in Angstmomenten? – Ist deine innere Stimme freundlich und beruhigend oder kritisch und ängstlich? Überlege, wie du einen guten Freund beruhigen würdest – und versuche, in Zukunft ähnlich mit dir selbst zu sprechen.
Was würdest du gewinnen, wenn deine Angst weniger Einfluss hat? – Stell dir vor, die Angst schrumpft: Welche Aktivitäten, Träume oder Alltagsgenüsse könntest du (wieder) verwirklichen? Dieses Bild kann motivieren, dran zu bleiben und die Werkzeuge wirklich anzuwenden.
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